Page 116

Katalog 382 | Zeitgenössische Kunst

190 KIEFER ANSELM 1945 DONAUESCHINGE Von den Verlorenen gerührt, die der Glaube nicht trug, erwachen die Trommeln im Fluß. Mischtechnik (Gelatinesilberabzug, Blei, Bindfaden, Kleber) auf Papier, mittig gefalzt. 60 x 127cm. Betitelt am oberen Rand: Von den Verlorenen gerührt, die der Glaube nicht trug, erwachen die Trommeln im Fluß. Sowie gewidmet unten links: für Klaus. Signiert verso: anselm. Rahmen. Im Rahmen beschrieben. Provenienz: Vom Künstler an Klaus Michael Grüber Privatsammlung Hessen „Ich erzähle in meinen Bildern Geschichten, um zu zeigen, was hinter der Geschichte ist. Ich mache ein Loch und gehe hindurch.“ (Kiefer zit. nach: Ausst.-Kat. Anselm Kiefer – die sieben HimmelsPaläste 1973-2001, Fondation Beyerler, Riehen/Basel 2001, S. 58) In seinen Werken thematisiert Anselm Kiefer Abgründe und Mythen der deutschen Geschichte, wobei er sich intensiv mit Philosophie, Literatur und jüdischer Mystik auseinandersetzt. Durch die Verwendung verschiedenster Techniken und vielfältiger, häufig archaischer, Materialien sowie Inschriften schafft er Metaphern, mit denen er uns ein Bild für die Welt, ein Gesamtbild, aufzeigen will. Dies tut er nicht nur in wuchtigen, monumentalen Werken, sondern auch in kleineren, „stilleren“ Papierarbeiten, wie bei unserer collagierten Schwarz-Weiß- Fotografie. In Großaufnahme ist hier ein aufspritzender Wasserstrudel zu sehen, über dem aus Bleiblech ausgeschnittene, einfache Gewänder durch die Luft zu wirbeln scheinen. Ob sie vom Sog des Wassers erfasst und in die Tiefe hinabgezogen werden, bleibt ungewiss. Dieser bedrückenden Szenerie ist eine Zeile aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die Brücken“ (1952) hinzugefügt: „Von den Verlorenen gerührt, die der Glaube nicht trug, erwachen die Trommeln im Fluß“. Eine eindringliche Kraft geht von dieser bedrückenden und rätselhaften Darstellung aus, die uns in ihren Bann zieht. Vorgaben für Assoziationsmöglichkeiten gibt uns Kiefer nicht. So könnte man den Wassersog als Sinnbild für einen Übergang verstehen. Gleich den bildlichen Symbolen haben auch die Textfragmente als Sinnträger eine große Bedeutung für Kiefer. Wie wichtig ihm der Inhalt der Gedichtszeile von Bachmann ist, zeigt, dass er diese auch in weiteren Arbeiten einschreibt. So z.B. bei der großen, gleichnamigen „Gemälde-Skulptur“ (420 x 780 x 100cm) von 2004, die sich in der Art Gallery of New South Wales befindet. Kiefer hat hier auf der mit Farbe und Sand bemalten Leinwand das Teilstück einer Betontreppe montiert - auch diese könnte als Metapher des Überganges gesehen werden. Unsere Arbeit ist ein Geschenk Kiefers an Klaus Michael Grüber (1941–2008). Mit dem Theater- und Opernregisseur, dessen Bühnenbilder ausschließlich von Malern erstellt wurden, arbeitet er seit 2003 sehr eng zusammen. Für die Antiken-Dramen „Ödipus auf Kolonos“ von Sophokles am Burgtheater in Wien und „Elektra“ von Richard Strauss am Theatro di San Carlo in Neapel (2008: Teatro la Fenice, Venedig) entwirft er die Bühnenbilder und Kostüme. Dabei wählt er für die Kulisse des „Ödipus“ eine geborstene Brücke, die die von brennender Sonne versenkte Landschaft beherrscht. € 70.000 - 100.000 | $ 76.300 - 109.000 114 | 115 ZEITGENÖSSISCHE KUNST


Katalog 382 | Zeitgenössische Kunst
To see the actual publication please follow the link above