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Katalog 320 Alte Kunst

115 Nerly, Friedrich 1807 Erfurt - 1878 Venedig 570 | $ 90.300 - 129.000 / € 70.000 - 100.000 Venedig. Blick über das Markusbecken auf Santa Maria della Salute. Signiert unten rechts: Nerly. Öl auf Leinwand. 65 x 98cm. Rahmen. Rückseitig: „F. Nerly in Venedig. f. 1855“. Gutachten: Dr. Wolfram Morath-Vogel, Erfurt, April 2013. „Das vorliegende Gemälde habe ich im März 2013 im Original untersucht. Es handelt sich meiner Überzeugung nach um ein authentisches Werk von Friedrich Nerly (1807 – 1878), das in der Gesamtanlage wie in der Ausführung alle Merkmale der Eigenhändigkeit zeigt. „Venedig und immer Venedig, von allen Seiten, groß und klein, zur alten und jetzigen Zeit“ sei sein unerschöpfliches Thema, schreibt Nerly am 3. Oktober 1845 an den preußischen Oberbaurat Albert Dietrich Schadow nach Potsdam. Die malerische Auseinandersetzung mit der gleichsam amphibischen Lagunenstadt bildet den Schwerpunkt seines Lebenswerks; dabei steht der Blick auf das nächtliche Venedig im Kernbereich seines ausgreifenden Schaffens. Die bald nach seiner 1837 erfolgten Übersiedlung von Rom nach Venedig konzipierte „Piazzetta bei Mondschein“ (Erstfassung von 1838 im Angermuseum Erfurt), die in zahlreichen eigenhändigen, immer leicht variierenden Fassungen überliefert ist, wurde zum Klassiker seiner Kunst. Zugleich hat Nerlys Sicht auf die Stadt deren eigentümliche Bildgeschichte fortgeschrieben und tradierend verwandelt. Unter den nach dem Dreißigjährigen Krieg in ganz Europa verstärkt aufkommenden, gemalten Stadtansichten behaupten seit dem 17. Jahrhundert die Darstellungen der Serenissima eine Sonderstellung. Wohl keine zweite Stadt Europas ist unter dem Aspekt ihrer Bildschönheit so differenziert und kontinuierlich zum Thema gemacht worden wie Venedig: Markusplatz, Canal grande und Rialtobrücke, Dogenpalast und Seufzerbrücke, Sansovinos Libreria, Prokuratien und Piazzetta sowie zahllose campi, Paläste und Kirchenfassaden wurden ins Bild gesetzt und haben die Stadt auch bildgeschichtlich zum Denkmal gemacht. Der Blick über das Bacino di San Marco auf die Punta della Dogana und auf die gewaltige Kuppel von S. Maria della Salute (erbaut 1631-87) gehört schon früh zu den Hauptansichten der vedutisti, wie lange vor Nerlys Auftreten Beispiele von Gaspar van Wittel (gen. Vanvitelli, 1652/53 - 1736), Michele Marieschi (1710 - 1743), Roberto Roberti (1788 - 1837), Giuseppe Bernardino Bison (1762 - 1844) und viele weitere belegen. Doch die spätromantische Verbindung des großartigen Anblicks der wie aus dem Meer still und märchenhaft auftauchenden Stadt mit den Übergangszuständen der Dämmerung und der mondhellen Nacht bleibt Nerlys eigenste Leistung. Das eingangs „amphibisch“ genannte Wesen Venedigs wird von Nerly konsequent als Zugehörigkeit zu zwei Welten, einer äußeren und inneren zugleich aufgefaßt, als der Realität und der Phantasie angehörendes Phänomen, das seine volle Wirklichkeit 570 mit Rahmen jenseits der bloß greif- und sichtbaren Tatsächlichkeit zur Geltung bringt. Nerly entwickelt die bildmäßige Erscheinungsruhe der nächtlichen Vision unter klarer Bezugnahme auf die Grundrichtungen der Fläche, motivisch gesprochen: aus der mondbeglänzten Equilibristik der nur vom Ruderschlag der Gondolieri im Vordergrund leise bewegten, ruhigen Wasserfläche und den Vertikalen der Architekturen sowie der abgetakelten Masten still liegender Segelschiffe; letztere beschwören im Zeitalter der aufkommenden Dampfschiffahrt eine zum Zeitpunkt der Bildentstehung längst im Schwinden begriffene Welt, die schon zu Nerlys Zeit Erinnerung geworden war. Die Segler ebenso wie die noch von keiner Gaslaterne gestörte Mondnacht vermeiden die Beschreibung der Fakten im Zeitalter der aufkommenden Gasbeleuchtung, die Nerly mit weiteren Modernisierungen brieflich beklagte als Zerstörung seines geliebten Venedig, dessen Traumschönheit den Rückzug in die Bilderträume längst angetreten hatte. Das topographische Motiv des Bildes hat Nerly schon mindestens zehn Jahre vorher durchentwickelt; sein nahezu motivgleicher Blick auf S. Maria della Salute gen Westen bei beginnender Abenddämmerung - ohne Mond, die Abendsonne von der Kirchenkuppel verdeckt - ist 1845 datiert (Öl auf Leinwand, 59,5 x 82,5 cm, ehem. Besitz Fam. von Waldenburg). Das vorliegende Werk akzentuiert die optische Zwiesprache zwischen dem vollen Mond und der Salutekirche, deren „äußere Kuppelwölbung wie eine große leuchtende Kugel emportaucht“ (E. Hubala). Die Korrespondenz zwischen leuchtendem Himmelskörper und verschatteter Kirchenkuppel erscheint, wiederum in Übereinstimmung mit den Hauptachsen der Fläche, geistvoll abgewandelt und gleichsam räumlich gedehnt in der Korrespondenz zwischen dem verschatteten Turm der Dogana da Mar mit vergoldetem Erdball (auf dessen höchster Stelle die Bronzefigur der Fortuna als Glücksfigur der Handelsherren und Kaufleute sich im Winde dreht) und dem vom Mond hell beleuchteten, polygonalen Baukörper am rechten Bildrand. Generell hat Nerly seine Werke gern in Varianten wiederholt, frühere Bilder niemals buchstäblich kopiert. Den Grundgedanken der Korrespondenz von Vollmond und Kirchenkuppel in Verbindung mit dem samt Beibooten fast identischen Segelschiff rechts unter Betonung der Grundrichtungen und bei identischer farbiger Haltung hat Nerly zeitgleich zum vorlie-


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