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Katalog 382 | Zeitgenössische Kunst

von 1976 (9) hatte ihr Kurator Benjamin Buchloh 1971 enden lassen, weil für ihn die Zeichnungen Die Fahrt auf der Unendlichkeitsacht von 1969- 1971, die 1971 bei Konrad Fischer in Düsseldorf gezeigt worden waren, „das Ende Polkes als Künstler“ bedeutet hatten. (10) In der Folge hatte sich die Einschätzung verfestigt, dass Polke in den siebziger Jahren, seit seiner Niederlassung 1972 auf dem Gaspelshof in Willich, auf halbem Weg zwischen Düsseldorf und Viersen, „im Orbit verschwunden“ sei, „verloren gegangen auf zu vielen Reisen, als Klischee-Hippie auf einem Drogentrip hängengeblieben - interessant werde es erst, als er um 1980 in der Rolle des malenden Alchemisten und humanistisch geläuterten Gelehrten wieder aufgetaucht“ sei. (11) Die entscheidende Korrektur dieses Defizits in der Rezeption des Künstlers erfolgte mit der Publikation Wir Kleinbürger! von 2009. (12) Seitdem ist zwar die These von der „obskuren Lücke“ (13) in Polkes Schaffen nicht mehr zu halten. Trotzdem bedeutete die Übersiedlung vom Gaspelshof nach Köln im Jahr 1978 so etwas wie einen Neuanfang Polkes als Maler. An dieser Wendemarke – im Anschluss an den zehnteiligen, 1974-1976 gemalten Zyklus Wir Kleinbürger - Zeitgenossen und Zeitgenossinnen: Unsere Auf- und Abrichtung zum Kleinbürger. Unser schwieriges Sexualleben. Wofür wir schaffen, wovon wir träumen. Wenn es uns auf die Barrikaden treibt. Wie wir uns durchschlagen. Wie wir abhauen – entstand das Bild Es war der Gärtner. Als Vorlage für die Zeichnung des Gärtners, der sich einen Busch als bequemen Fauteuil zurechtgestutzt hat, diente wohl ein - bislang nicht identifizierter – Cartoon; dass dieses Motiv zu den gängigen Themen bei Karikaturen zur ars topiaria gehört, kann durch andere Beispiele belegt werden; dass aber die „Idylle im Stil biederster Gartenlaubenromantik“ durchaus auch ein Aspekt des Landkommunelebens auf dem Gaspelshof war, belegt ein Foto Sigmar Polkes aus dem Jahr 1976. (14) Die Farbschüttung, die in Polkes Schaffen ab den 1980er Jahren eine so große Rolle spielen wird, setzt er hier, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, ein als ein künstlerisches Mittel eigenen Rechts - nicht mehr nur, wie im Fall des lila Kleckses in dem längst als Schlüsselwerk nicht nur im Werk von Sigmar Polke erkannten Bild Moderne Kunst von 1968, als bloßes „Zitat oder gar Verballhornung moderner Malpraktiken“ (15). Mit der bildbeherrschenden Spirale aber greift er zurück auf die ebenfalls 1968 entstandene programmatische Zeichnung Erweiterung des Planetensystems um einen 10. Planeten - ein Blatt, das „nicht nur einen >Tatbestand< ... markiert“ – eben die Existenz eines zehnten Planeten –, sondern das „auch dessen Herleitung zu erkennen gibt. Irgendwo im leeren Raum, so ist zu sehen, ist der unbekannte Planet in Erscheinung getreten, hat sich spiralförmig dem Sonnensystem genähert, jeden seiner Planeten umkreist, um schließlich – nicht ohne ausgreifende Schlenker im All zu vollführen – in eine feste Umlaufbahn einzutreten“. (16) Der Name dieses zehnten Planeten ist: „Polke“. (1. Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke, Band 5: Erzählungen. Theoretische Schriften, München 1993, S. 884-891, S. 1221-1222.; 2. Wimmer, Clemens Alexander: “Ars topiaria. Die Geschichte des geschnittenen Baumes“, in: Die Gartenkunst 1, 1989, Heft 1, S. 20-32. - Margherita Azzi Visentini, Topiaria. Architetture e sculture vegetali nel giardino occidentale dall’antichità a oggi, Treviso: Ed. Fondazione Benetton, 2004. - Clemens Alexander Wimmer, Lustwald, Beet und Rosenhügel. Geschichte der Pflanzenverwendung in der Gartenkunst, Weimar 2014.; 3. Zitiert nach: Wimmer 1989, S. 25.; 4. Pope, Alexander, in: The Guardian, 1713; zitiert nach: Hunt, John Dixon/Willis, Peter (Hrsg.): The Genius of the Place. The English Landscape Garden 1620-1820, London 1975, S. 207.; 5. Wimmer 1989, S. 27. Zu diesem Topos siehe: von Rosen, Valeska: „Celare artem. Die Ästhetisierung eines rhetorischen Topos in der Malerei mit sichtbarer Pinselschrift“, in: Pfisterer, Ulrich/Seidel, Max (Hrsg.): Visuelle Topoi: Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München/Berlin 2003, S. 323-350, bes. Abschnitt II: „Ars est celare artem“ (S. 325-328).; 6. Wimmer 1989, S. 23.; 7. Erschienen auf dem Album Ich bin aus jenem Holze.; 8. „Baumverstutzerei“ ist der Titel eines gegen die ars topiara gerichteten Beitrags von Christian Cay Laurenz Hirschfeld, erschienen in dem von ihm herausgegebenen Gartenkalender auf das Jahr 1783, S. 215-217.; 9. Ausst.-Kat. Sigmar Polke: Bilder - Tücher - Objekte. Werkauswahl 1962-1971, Kunsthalle Tübingen, Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Stedelijk van Abbe-Museum Eindhoven, 1976.; 10. „Um 1976. Ein Interview mit Benjamin H. D. Buchloh“, in: Halbreich, Kathy (Hrsg.): Alibis - Sigmar Polke 1963- 2010, München 2015, S. 209. - Die vier großformatigen farbigen Zeichnungen mit den Untertiteln Der Motorradfahrer, Die Motorradbraut, Die Motorradlampe und Die Landschaft sind abgebildet im Katalog Tübingen/Düsseldorf/Eindhoven 1976 (wie Anm. 9), S. 121-123.; 11. Lange-Berndt, Petra/Rübel, Dietmar: „Multiple Maniacs! Fluchtbewegungen bei Sigmar Polke & Co.“, in: Lange-Berndt, Petra/Rübel, Dietmar (Hrsg.): Sigmar Polke: Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen. Die 1970er Jahre, Köln 2009, S. 25.; 12. Siehe Anm. 11.; 13. Robert Storr 1992, zit. nach: Wir Kleinbürger! (wie Anm. 11), S. 25.; 14. Glozer, Laszlo: Sigmar Polke. Von Willich aus. Fotografien 1973-78, Köln/New York/London 2015, zit. S. 18, Abb. S. 51.; 15. Curiger, Bice: Sigmar Polke. Alles fließt: Die Photo Copie GmbH, Baden-Baden 2004, S. 44.; 16. Hentschel, Martin: Die Ordnung des Heterogenen. Sigmar Polkes Werk bis 1986, Bonn 1991, S. 290-291.). Marcel Baumgartner Sigmar Polke. Erweiterung des Planetensystems um einen 10. Planeten. 1968. Kugelschreiber, Radiograph und Aquarell auf Papier. 30 x 21cm. © The Estate of Sigmar Polke, Cologne / VG Bild-Kunst, Bonn, 2016. Sigmar Polke. Ohne Titel (Willich). 1976. Silbergelatineabzug. 21,1 x 29,6 cm. © The Estate of Sigmar Polke, Cologne / VG Bild-Kunst, Bonn, 2016.


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