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Katalog 382 | Zeitgenössische Kunst

GRUPPO MID Die Kunst der 1960er Jahre ist durch einen Umbruch gekennzeichnet, der die herkömmlichen künstlerischen Disziplinen sprengt: Happening und Fluxus integrieren den Betrachter, das Objekthafte tritt anstelle des Zweidimensionalen und folgerichtig sind die neuartigen Werke von Beweglichkeit und Veränderung ihrer Bildmittel geprägt. Kinetik und prozesshafte Kunst erweitern das Kunstwerk um eine zusätzliche zeitliche Dimension, die für den Betrachter erfahrbar wird. So auch die Op(tical) Art, die optische Phänomene erforscht und bewusst bildnerisch einsetzt. Mit Mitteln der Malerei, seriellen Strukturen, Rastern und vor allem mit Hilfe von technischen Apparaturen beginnt eine junge Generation von Künstlern, Licht und optische Phänomene als künstlerisches Material zu verwenden. In Kombination von Licht und Bewegung erzeugen sie überraschende Effekte, die die Aufmerksamkeit des Betrachters herausfordern. Eine ganze Reihe bahnbrechender Ausstellungen widmet sich diesen neuartigen Tendenzen und ihrer ‚visuellen Forschung’, so etwa Nove Tendencije , von dem brasilianischen Künstler Almir Mavignier kuratiert, der 1961 in Zagreb eine große Überblicksschau organisiert. Darunter finden sich Protagonisten der ZERO Avantgarde wie Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker. Das Stedelijk Museum Amsterdam widmet der Kinetik im gleichen Jahr die Schau Bewogen Beweging und das New Yorker MoMA hebt 1965 mit The Responsive Eye explizit auf die Op Art ab. Mailand stellt mit Lucio Fontana, Piero Manzoni, Enrico Castellani, Dadamaino und Nanda Vigo neben Paris, Düsseldorf und Amsterdam ein Zentrum der neuen Kunst dar. Hier bilden sich zahlreiche Kollektive, so auch Gruppo MID, die 1964 von Antonio Barrese (*1945 in Mailand), Alfonso Grassi (1943–2014), Gianfranco Laminarca (1941–1990) und Alberto Marangoni (*1943 in Giussano/ Mailand) gegründet wird. Die Gruppe, deren Akronym für Mutamento Immagine Dimensione (Wechsel Bild Dimension) steht, verwendet rotierende Lichtscheiben und zylindrische Stroboskope, um eine ständig in Veränderung befindliche Bildwelt zu schaffen. Lichtblitze lassen Bewegung als eine Abfolge von stehenden Bildern wahrnehmen, deren Form- und Farbvariationen geradezu unendlich erscheinen. Immagini sintetiche, synthetische Bilder, nennt Gruppo MID jene multipel überlagerten Bilder, die rein technisch generiert werden. Während der aktiven Zeit der Gruppe entstehen zwischen 1964 und 1972 eine große Zahl an Fotogrammen, die mit einer Mittelformat–Kamera aufgenommen und in einem intensiven Bearbeitungsprozess verändert werden. Bekannt wurde Gruppo MID mit stroboskopischen Generatoren, die als Quadro stroboscopico oder Oggetto stroboscopico vom Betrachter manuell in Gang gesetzt werden. Nachdem Gruppo MID an zahlreichen historischen Kinetik- Ausstellungen teilgenommen hat, darunter Kunst Licht Kunst im Stedelijk van Abbemuseum, Eindhoven (1966), oder Tendencije 4 in der Galerija Suvremene Umjetnosti i Galerije Grada Zagreba, Zagreb (1969), ist das Interesse an den Neuen Tendenzen als Vorläufer der computergestützten Kunst nach wie vor ungebrochen. 2009 widmete das ZKM Karlsruhe mit Bit International. Nove tendencije. Computer und visuelle Forschung. Zagreb 1961–1973 dem historischen Phänomen eine große Überblicksausstellung, an der Gruppo MID beteiligt war. In der Schau Lumineux! Dynamique! Espace et vision dans l’art, de nos jours à 1913 im Pariser Grand Palais zeigte die Mailänder Gruppe einen großformatigen Stroboskop-Zylinder (Grande disco stroboscopico, 1968).


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